Lüge statt Liebe
Robert Lehmeier und Tom Musch gelingt in Coburg ein kitschfreier „Werther“
Das Orchester, Februar 2009
Overdressed sieht sie aus. Charlotte kommt daher wie eine Mischung aus Anne-Sophie Mutter und Verona Pooth. Wenn sie den Kindern, die im Planschbecken herumgetollt sind und gesungen haben, Handtücher umlegt, trägt sie ein Cocktailkleid mit großer Ansteckblüte. Ach ja, richtig, gleich kommt Werther und holt sie zum Ball ab. Wenig später, wenn ihr Verlobter Albert zurückkehrt und gedankenverloren noch einmal seine Mitbringsel auspackt, passiert etwas Merkwürdiges: Er lässt die Pelzstola in der Schachtel einfach liegen, als Überraschung. Doch nicht er wird seiner Zukünftigen das teure Geschenk um die Schultern legen, sondern Werther, der die Gelegenheit beim Schopf packt und sich hier gewissermaßen mit fremden Federn schmückt – ausgerechnet er, der Poet!
Es sind scheinbar kleine, aber vielsagende Hinweise, die der Regisseur Robert Lehmeier und sein kongenialer Ausstatter Tom Musch in ihre Coburger „Werther“-Inszenierung eingebaut haben, damit auch die Zuschauer von heute verstehen, worum es in dem 1892 uraufgeführten Drame lyrique von Jules Massenet geht. Den beiden ist hier Regietheater im besten Sinn des Wortes gelungen – was heutzutage eher Seltenheitswert hat bei der Vielzahl von so genannten Interpretationen, die mit einem Werk und seiner Musik herzlich wenig am Hut haben und nur mit aufgepappten Konzepten auffallen wollen.
Am Landestheater Coburg, wo das alles ohnehin ein paar Stufen zahmer abläuft, hat man Robert Lehmeier fälschlicherweise gern in diese Schublade gesteckt. Dabei sind alle sechs Opern, die er dort in den vergangenen sechs Jahren inszeniert hat, geradezu Leuchttürme im Meer der bedeutungslos-beliebigen Produktionen, die zwischen musealem Rampentheater und ärgerlich klein gedachter Möchtegern-Provokation pendeln. Seine Lesart des „Werther“ besticht schon deshalb, weil sie völlig kitschfrei gelungen ist. Und grundmusikalisch dazu.
Zunächst begeistert an dieser Inszenierung ihre Klarheit und die Einfachheit der Mittel. Die Geschichte wird erzählt, nichts sonst. Und weil der Regisseur den melodramatischen Gefühlen um Gottes Willen nicht aus dem Weg gehen will, hat er sie in eine Kinowelt der 1950er Jahre verlegt. Was für eine Punktlandung das ist, offenbart sich schon zu Beginn, wenn in dem gestuften Einheitsraum mit dem Rundvorhang Johann und Schmidt in unsäglich kurzen und engen Shorts den badenden Kindern zuschauen. Natürlich denkt man unwillkürlich, wie verklemmt die Menschen damals waren. Auch die stilisierte Körpersprache sagt unendlich viel über Konventionen und Pflichten.
Kein Wunder, dass Werther (bravourös: Milen Boszhkov), der Freigeist im roten Jackett, für Unruhe sorgt. Er ist kein Dichter, sondern ein Gesamtkunstwerk. Auf der Leinwand der Gefühle stilisiert er sich zum Naturliebhaber, zum romantischen Träumer und unglückselig Liebenden hoch, und zwar so unbarmherzig, dass er zur Durchsetzung seiner Ziele nicht nur gegen sich selbst rabiat ist. Er – und nur er allein – steht im Mittelpunkt dieser Selbstinszenierung. Was er betreibt, ist eher eine große (Selbst-)Lüge als die große Liebe, die durch wundersame Beleuchtungskringel (Licht: Klaus Bröck) ihren ganz eigenem Zauber entwickelt.
Dass Charlotte (überzeugend: Franziska Rabl) überhaupt ins Wanken gerät, hat vor allem mit den gesellschaftliche Zwängen zu tun, denen sie entkommen will. Als Dame von Welt achtet sie penibel darauf, dass ihre Beine beim Sitzen schräg und undurchdringlich parallel nebeneinander stehen. Ihre Pelzstola trägt sie zunehmend wie einen Brustpanzer, und ständig streicht sie ihre Kleidung glatt, als ob sie dadurch alles unter Kontrolle bekäme. Nur zweimal verliert Charlotte die Contenance, nimmt ihr Herz in die Hand und küsst Werther – aus jener undefinierbaren Verzweiflung und Sehnsucht heraus, von der beredt die Musik spricht.
Im zweiten Akt, unter nostalgischen Laternen und in vereinzelten Kinosesseln, nimmt die Verwirrung ihres Herzens Fahrt auf. Im dritten und vierten Akt, im bläulich-kalten Licht unter den Weihnachtsbäumen und inmitten einer erdrückenden Fülle von Geschenken, sorgt der gekränkte Albert (etwas überfordert: Marek Reichert) dafür, dass die Dreiecksgeschichte sich vollendet. Und selbst das pelzverbrämte gelbe Kostümchen, das Sophie (eher unterfordert: Sofia Kallio) trägt, erinnert einen plötzlich daran, dass Doris Day nicht nur nette Filme gedreht hat, sondern solche, in denen es ans Leben geht.
Die sinnfällig und präzise geführten Solisten singen auf einem beachtlich hohen Niveau, allen voran der junge bulgarische Tenor Milen Bozshkov, bei dem man schon von Besetzungsglück sprechen darf. Und das Philharmonische Orchester unter GMD Alois Seidlmeier spielt, anders als bei Wagners „Rheingold“ zur Saisoneröffnung, so souverän, so subtil und klangmächtig auf, dass auch der letzte Zweifler die erst im Juli erfolgte Höherstufung des Hauses von C auf B nachträglich unterschreiben möchte.