Die Ahnungslosigkeit der Wohlsituierten
Die Kammeroper „Der Besucher“ ist ein Lehrstück gegen alltäglichen Rassismus und Diskriminierung.
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Alltäglicher Rassismus entlädt sich aufgrund der puren Anwesenheit eines schwarzen Menschen (July Zuma) im Theaterfoyer, auf den eine verspätet eintreffende, etwas verpeilte Familie trifft. Und sogleich hagelt es Stereotype.
Mitleidsbekundungen zum Fremdschämen, die urplötzlich in pure Aggression umschlagen. Lorin Wey gibt einen arbeitslosen Verlobten, hingerissen zwischen verkrampfter Empathie und Gewaltbereitschaft; Hedwig Ritter spielt die Tochter, der nichts Besseres einfällt, als den „Ureinwohner“ zu begrapschen, was gründlich schiefgeht.
Vater und Mutter (Frank Dolphin Wong und Orsolya Ercsényi) erweisen sich als völlig weltfremd und entgleisen total, als sie dem Besucher in ihrer hochnotpeinlichen Ahnungslosigkeit ein scheinbar tiefsinniges Verständnis entgegenzubringen versuchen, über das sie in keinerlei Hinsicht verfügen.
Alltäglicher Rassismus hat anscheinend eine Menge mit Hilflosigkeit, Kommunikationsunfähigkeit, fehlendem Einfühlungsvermögen zu tun, während unter einer dünnen zivilisatorischen Deckschicht nackte Gewaltbereitschaft brodelt.
Ein philharmonisch bestücktes Kammerorchester lässt unter Anne Hinrichsens Leitung auf subtile Weise die untergründigen Seelenzustände der Protagonisten aufscheinen, während ein von Hagen Enke einstudiertes Frauenensemble mal als irdischer Chor der Selbstgerechten, mal als himmlischer Chor der Gerechten auftritt, Letzterer ausgerüstet mit Schnellfeuerwaffen.
Und wenn die resolute Garderobiere (Monika Mayer) nicht eingegriffen hätte, wäre der Besucher überhaupt nicht zu Ton und Wort gekommen. So stellt sich heraus, dass er der Rolle als anonyme Projektionsfläche für den Hass der Wohlsituierten eine Persönlichkeit mit Krisen und Träumen entgegenzusetzen hat. Mit dem Barkeeper (Roberto Junior) verbindet ihn eine zärtliche Beziehung, die seine Kontrahenten endgültig aus der Fassung bringt. …
Johannes Vetter, Neue Westfälische