FAZ, 15.3.2013
Nächtlicher Spuk erschüttert das Township
Kapstadt, den 14. März. Am letzten Wochenende gastierte das Concertgebouw Orkest aus Amsterdam in Artscape, dem innerstädtischen Theater- und Konzertsaal-Komplex Kapstadts. Eintrittspreise um die 70 Euro, das Publikum vorwiegend weiß, wohlbetucht. Zur gleichen Zeit wurde in einer nicht weit entfernten, aber völlig anderen Welt, nämlich im Joseph Stone Auditorium in Kapstadt Athlone, die Oper „Fairy Queen“ von Henry Purcell aufgeführt, im Rahmen des vierten „Umculo Cape Festival“. Der Kontrast könnte kaum größer sein.
Athlone ist ein überwiegend von Farbigen bewohnter Vorort. Das Joseph Stone Theatre wurde 1969 für die letzte gemischtrassige Theater- und Operntruppe Südafrikas, die „Eoan Group“, nach ihrer Vertreibung aus der City Hall in die sandige Ebene der Cape Flats gesetzt. Im Gegenzug baute damals das Apartheid-Regime downtown jenes monströse Beton-Ensemble namens Artscape, das noch heute abgeschnitten vom restlichen Stadtleben und immer noch am angenehmsten über die Tiefgarage zu betreten ist.
Nach wie vor gibt es auch nur wenige Opernaufführungen in Südafrika – neben der Cape Town Opera agiert landesweit keine andere Truppe, die finanziell ähnlich ausgestattet eine volle Saison bestreiten könnte. Aber es wird viel gesungen in diesem Land. Es gibt ein großes Reservoir an echten Sängertalenten, nicht zuletzt wegen einer höchst lebendigen Chortradition, gerade unter den „coloured people“.
Das Wort „Umculo“ bedeutet einerseits so viel wie „Musik“, andererseits „Versöhnung“. Dieses Festival wurde mit geringen Mitteln, aber durchschlagendem Erfolg vor vier Jahren von der Musikjournalistin Shirley Apthorp ins Leben gerufen, mit dem erklärten Ziel, europäische und südafrikanische Künstler zusammenzubringen unter dem Motto „Social Change Through Music“. Das Unternehmen stellt sich also bewusst in die Tradition des venezolanischen El Sistema. Etwaige Bedenken aber, hier seien nun europäische Gutmenschen dabei, Gettokinder mit abendländischer Kultur zu päppeln, verfliegen wie von selbst nach nur wenigen Minuten, nämlich als zum ersten Mal der dreißgköpfige Bloekombos Secondary School Choir auftritt in „Fairy Queen“: Es sind Jugendliche aus der schwarzen Township Kraaifontein, die diese Aufführung tragen, mit einer berührenden Ernsthaftigkeit und zugleich szenischer wie musikalischer Präzision, die den Atem raubt.
Der Regisseur Robert Lehmeier konzentriert sich in seiner Inszenierung auf Shakespeares Hauptcharaktere. Die Handlung spielt auf leerer Bühne, unterstützt nur von einem ausgefeilten Lichtkonzept (Michael Maxwell) sowie sparsamen Kostümen (Thando Lobese). Die acht Solisten agieren, ebenso wie der Chor, mit enormer Spielfreude – vielleicht weil Lehmeier sich in seiner Regie sehr genau mit den virulenten Thematiken Südafrikas auseinandergesetzt hat. Er legte den Schwerpunkt dieses Mitsommernachts-Traums auf die Themen Gender und Sexualität – der nächtliche Spuk erschüttert also nicht nur die beiden Paare Lysander und Hermia sowie Demetrius und Helena, auch Puck, überzeugend dargestellt von Sandile Mabaso, treibt hier sein Unwesen als eine Mischung aus Pilot und Drag Queen im Leoparden-Look, mit High Heels. Und wenn Oberon und Titania (souverän gesungen und gespielt von Mlamli Lalapantsi und Angela Kerrison) aus dem Chor immer wieder einen neuen „Indian Boy“ für sich in Anspruch nehmen wollen, wird jede Berührung, jede Bewegung fast seismographisch vom Publikum kommentiert. Eine lebhafte Anteilnahme, die besonders erstaunlich ist in einem Land, das zwar über eine der progressivsten Verfassungen verfügt, in dem aber nach wie vor Themen wie Homosexualität, Missbrauch und sexuelle Gewalt als Tabus gelten. Insofern ist diese Produktion des „Umculo Cape Festival“ weit entfernt von den üblichen Tournee-Produktionen, die Südafrika als ein Land von trommelnden tanzwütigen Eingeborenen vorführen.
Dirigent Warwick Stengards nimmt das Tempo der Inszenierung auf, er lenkt das Orchester, das sich aus Mitgliedern des South African National Youth Orchestra und professionellen Musikern aus Südafrika und Europa zusammensetzt, mit furiosem Barockmusik-Gestus und trägt zugleich sicher die Sänger, die teils atemberaubende Koloraturen absolvieren. Es gehört auch zum „Umculo“-Konzept dazu, ein junges Publikum mit Opernworkshops zu versorgen. Das „Fairy Queen“-Programmheft verweist auf allein vier Mitarbeiter, die Basisarbeit an den Schulen leisten. Nahezu alle jungen Farbigen hier singen in Chören, und seit einigen Jahren ist Oper auch Teil des Pflichtprogramms bei den nationalen Chorwettbewerben. Am meisten aber rührt die Konzentration, mit der die jungen Schüler im Publikum die Aufführung verfolgen – selbst während der sechsminütigen „plaint“ der Helena (Melissa Gerber) herrscht atemlose Stille. In Deutschland, dem opernreichsten Land der Welt, stellt man sich oft die Frage nach der Notwendigkeit von Musiktheater- hier, in Südafrika, wo Oper Mangelware ist, wird sie klar mit Ja beantwortet.