Und Cherubino ging zur Feuerwehr
Das Umculo Cape Festival kämpft in den Townships von Südafrika für den sozialen Wandel durch Musik
Jouberton, Anfang Oktober
Marcellina ist verärgert. Sie will nicht einsehen, dass Figaro ihr die Schau stehlen darf. Der Schürzenjäger und Kammerdiener des Grafen Almaviva hat sie nicht nur sitzenlassen, er wurde auch noch einem großen Komponisten verewigt. Wolfgang Amadeus Mozart heißt der, seine Oper „Le nozze di Figaro“ müsste aus ihrer Sicht eigentlich „Die Hochzeit der Marcellina“ heißen. „It´s about me!“, ruft sie, und das birgt eine Menge sozialen Sprengstoff – hier und jetzt, am anderen Ende der Welt, an ungewöhnlichem Ort.
Im südafrikanischen Jouberton gibt es dieser Tage Mozarts „Figaro“ zu erleben – ohne Orchester, aber mit Klavierbegleitung, und mit jungen schwarzen Sängern, die in den Arien Da Pontes Originalverse auf Italienisch singen, die Rezitative jedoch auf Englisch vortragen. Die Produktion hat das „Umculo Cape Festival“ gemeinsam mit der Northwest University in Potchefstroom realisiert. Für die Inszenierung zeichnet der deutsche Regisseur Robert Lehmeier verantwortlich, aus seiner Feder stammen auch die Dialoge. Jouberton ist ein Township bei Klerksdorp, 170 Kilometer südwestlich von Johannesburg. In dieser Gegend ist der schwarze Priester und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu groß geworden, Jazz-Trompeter Miles Davis hatte 1986 ein Album nach ihm benannt.
Townships wie Jouberton sind riesige Siedlungen für Schwarze, Erfindungen des Apartheid-Systems, die heute immer noch existieren, fast unverändert: eine faktische Kontinuität der südafrikanischen Gesellschaft. Noch immer ist Südafrika ein sozial gespaltenes Land, daran hat die Fußball-WM von 2010 wenig ändern können. Die schwarzen und die weißen Bürger leben weiterhin kaum miteinander, bestenfalls nebeneinander. Das Gros der schwarzen Bevölkerung, die ethnische Mehrheit im Lande, ist weiterhin benachteiligt. Und bis heute bilden sogenannte „Coloureds“, Mischlinge also, eine Art Pufferzone.
Hier setzt das „Umculo Cape Festival“ an. Von der in Südafrika geborenen und in Berlin lebenden Musikjournalistin Shirley Apthorp 2009 gegründet, will das Projekt einen sozialen Wandel durch Musik bewirken und zugleich auf die reichhaltige Vokaltradition Südafrikas aufmerksam machen. Als Vorbild fungierte einst das venezolanische „El Sistema“ – allerdings mit dem kleinen, aber wichtigen Unterschied, dass „Umculo“ politisch unabhängig ist.
Sponsoren stellen das Geld für die Realisierung der Musikprojekte zur Verfügung, die Aufführungen kosten keinen Eintritt, alle Mitwirkenden verzichten auf Lohn oder Gage. Mozarts „Figaro“ ist bereits das vierte Projekt, das „Umculo“ gemeinsam mit Lehmeier stemmt. Zuletzt hatte er 2015 die Uraufführung von „Comfort Ye“ realisiert, mit Musik der Australierin Cathy Milliken und Georg Friedrich Händels. Für dieses Projekt ist „Umculo“ zwar jüngst mit europäischen Preisen ausgezeichnet worden, in Brüssel und in Rotterdam. Doch ein Gastspiel in Europa kam bislang noch nicht zustande. Zwar fehlt es nicht an Einladungen von Festivals aller Art, zumal aus Deutschland, wohl aber am Geld.
Indes zeigt auch das diesjährige „Figaro“-Projekt, dass man in der europäischen Nachwuchs- und Jugendtheaterarbeit von den schwarzen jungen Talenten aus Südafrika einiges lernen könnte. Jedenfalls ist in Jouberton eine Frische zu erleben, die man hierzulande oft vermisst. Solisten wie Choristen nehmen mit intuitiver Stilsicherheit in Spiel und Gesang für sich ein. Dabei profitieren sie auch von Lehmeiers Regie, die einmal mehr den Blick auf die Gesellschaft schärft und zu einer freizügig natürlichen wie „befreiten“ Bühnenaktion animiert.
Lehmeier ist für „Umculo“ ein Glücksfall, denn seine Ästhetik entfernt sich weit von der herrschenden Bühnenrealität in Südafrika. Hier konserviert selbst Cape Town Opera, das führende Haus, einen eher konservierenden Historismus, der stark von den Opernmoden der Vereinigten Staaten geprägt ist. Durch die Arbeit mit Lehmeier erfahren die Studenten, wie es auch anders geht. Zuletzt hatte Lehmeier den „Figaro“ 1986 auf die Bühne gebracht, an der Komischen Oper Berlin, als Regieassistent von Harry Kupfer. Damals, in der DDR, witterte man im „Figaro“ einen Aufstand der Arbeiterklasse.
In Südafrika schärft Lehmeier jetzt den Blick auf eine Klassengesellschaft, die Mozart von innen aufbricht – durch Liebe, aber auch Liebelei. Das spiegelt die gesellschaftliche Realität in Südafrika wieder, gerade weil das Land noch immer gespalten erscheint. Überdies wird Sexualität weitgehend tabuisiert, trotz einer vergleichsweise liberalen Verfassung, die auch Homosexuellen weitreichende Rechte einräumt. Lehmeiers „Figaro“ trifft also ins Mark der südafrikanischen Gesellschaft, und die Reaktion der Kinder und Jugendlichen in Jouberton spricht für sich: „It´s about me!“.
Sobald es auf der Bühne etwas körperlicher zugeht, wird im Publikum nicht mehr getuschelt, sondern gegrölt. Besonders ausgeprägt ist die Irritation bei der Hosenrolle des Cherubino – eine Frau, die lustvoll andere Frauen begrapscht. Allerdings hat Lehmeier seinen „Figaro“ auch mit einigen Anspielungen auf die gegenwärtige Politik in Südafrika gewürzt, er schickt seinen Cherubino nicht nach Sevilla, sondern auf das Anwesen des amtierenden Staatspräsidenten Zuma in Nkandla. Dort verwandelt er sich in einen Feuerwehrmann – weil Zuma das Schwimmbecken im Garten seines Palastes als Löschteich deklariert hatte, um staatliche Fördermittel einzusacken.
Treffen sich bei Mozart die Liebenden wiederum heimlich, „unter den Pinien“, so wird hier daraus ein „Mr. Chips“. Das sind Läden in den Townships, in denen bis spät in die Nacht Snacks verkauft werden. Und wenn ein Schulmädchen, etwas sechs, den Kritiker aus Deutschland bittet, doch nicht so laut zu lachen, weil die Musik so schön sei, dann ist das der größte Erfolg: Mozart steht wahrlich mitten im Leben.
Marco Frei