„Liebesmacht im Politbüro“
Hannoversche Allgemeine Zeitung 22.8.2011
Es geht wieder rund in Braunschweigs Oper. Gut einen Monat, bevor sich im Großen Haus, das vor 150 Jahren eröffnet wurde, der erste Vorhang hebt, wird der historische Burgplatz der Stadt zur Bühne.
Vor acht Jahren gab es dort zum ersten Mal Oper unter freiem Himmel. Damals gab man „Carmen in der Arena“ – auf einer runden Bühne im Zentrum der 1300 Zuschauerplätze. An diesem Aufbau hat sich bei den alljährlichen Sommerproduktionen nichts geändert: Die Oper bleibt im Mittelpunkt. Das unterscheidet die Braunschweiger Produktionen in vieler Hinsicht von anderen Open-Air-Projekten wie etwa zuletzt Katharina Thalbachs „Zauberflöte“ am Wannsee. Dort steht oft eher der Ort (Oper am See!) im Vordergrund. In Braunschweig, wo der Platz mit dem berühmten Bronzelöwen ja auch eine spektakuläre Kulisse bildet, bemüht man sich dagegen, Musiktheater zu machen, das auch in geschlossenen Räumen funktioniert.
In diesem Jahr gelingt das besonders überzeugend, obwohl es besonders schwierig war: Giacomo Puccinis unvollendetes Spätwerk „Turandot“ ist auch unter den komfortableren Bedingungen eines Opernhauses eine Herausforderung für Ausführende und Publikum. Sänger müssen an ihre Grenzen gehen, das Publikum sieht sich ständigem Fortissimo ausgesetzt, und der Regisseur muss erklären, warum ein Mann sich auf den ersten Blick in eine Männer mordende Prinzessin verliebt und das Ganze trotz zu vieler Tote ein gutes Ende nehmen soll.
Regisseur Robert Lehmeier, der in den vergangenen Jahren mit Inszenierungen im kleinen Coburg vergleichsweise große Aufmerksamkeit erregt hatte, hat auf dem Burgplatz einen überraschenden Zugriff auf das Stück gefunden. Bei ihm ist die von Puccini vorgeschriebene „märchenhafte Vorzeit“ die Endzeit einer kommunistischen Regierung: Es gibt ein Politbüro statt Pagoden und schlecht sitzende Anzüge statt Seidenkimonos. Das Volk ist hier ein machtloses Parlament. Von runden Tischen aus applaudiert es den Weisungen der Minister und des Kaisers. Die vielschichtig choreographierte Art, mit der diese (leider auch musikalisch) wankelmütige Masse den Raum ausfüllt, ist beeindruckend: Nicht oft wissen Regisseure so viel mit einem Opernchor anzufangen.
Systemkritik ist Lehmeier bei seinem von den Ausstattern Tom Musch (Bühne) und Ingeborg Bernerth (Kostüme) entworfenen Kommunismus-Bild allerdings fremd. Es geht ihm nicht um Repression und Gewalt, wie es oft bei „Turandot“ zu sehen ist. Bei aller Präsenz der Parteitagsgänger konzentriert sich seine Inszenierung auf die Protagonisten Turandot und Calaf. Er zeigt beide als Taktiker der Macht; um Liebe, die ja immerhin behauptet wird, geht es hier nicht mehr. Sie will ohne einen Mann an ihrer Seite im Land herrschen, er plant, durch die Verbindung mit ihr Kaiser zu werden, und geht dafür über Leichen. So ist es nur konsequent, wenn Lehmeier (anders als Thomas Bischoff an der Staatsoper Hannover) den von Franco Alfano nach Puccinis Tod ergänzten Schluss der Oper spielen lässt. Am Ende kann sich Calaf so als neuer Herrscher inszenieren – er ist der Sieger in diesem Machtkampf der Liebe.
Bei dem Tenor Arthur Shen bleibt das allerdings nicht nur im berühmten „Nessun dorma“ Behauptung. Seine Stimme, die in der Höhe eng und gepresst klingt, ist für die Partie eigentlich nicht geeignet. Ansonsten aber überwiegt Wohlklang: Irina Rindzuner ist eine souveräne Turandot, Jung Nan Yoon eine wunderbar selbstbewusst leidende Liu. Das Staatsorchester Braunschweig tönt unter Leitung von Alexander Joel, der die Burgplatz-Produktion erstmals zur Chefsache erklärthat, trotz der etwas nivellierenden Verstärkung immer gerade so weich oder brutal, wie die Musik es verlangt.
Eine so schlüssige und klangsinnliche „Turandot“ sieht man überall gern. Auch und gerade an lauen Sommerabenden auf dem Burgplatz.